M-H Mathieu – Der Geist der Gründung

  Der Geist der Gründung

Die umfassende Bewegung von Weltbedeutung,  Glaube und Licht, ist vor vierzig Jahren aus dem tiefen Mitgefühl von Marie-Hélène Mathieu und von Jean Vanier für die Familien mit Kindern mit Behinderung, die bis dahin in der Kirche wenig aufgenommen waren,  entstanden.

Wer hält Glaube und Licht seit der Entstehung lebendig? Die zwei Gründer berichten.

 Am Anfang war eine Wallfahrt

 Wie konnte im Revolutionsjahr 1968 die sehr verrückte Idee von einer Wallfahrt nach Lourdes für Menschen mit einer geistigen Behinderung mit ihren Eltern hervorbrechen? Warum hat diese Wallfahrt von Glaube und Licht drei Jahre später zur Entstehung einer internationalen Bewegung geführt, die heute mehr als 1500 Gemeinschaften in achtzig Ländern der Welt zählt?

 Bericht von Marie-Hélène Mathieu.

 Das ist eine sehr schöne, erstaunliche Geschichte, mit ihrem Auf und Ab und ihren Wunderwerken, die aufzuschreiben ich kürzlich angeregt wurde, wobei ich immer wieder aufs Tiefste entdecke, wie das ein Werk Gottes war.

In den 60er Jahren träumten Camille und Gerard, ein junges Landwirte-Ehepaar in Somme von einer zahlreichen Familie. Sie kennen den Schmerz über die schwere Behinderung ihrer zwei einzigen Kinder, Thaddée und Loic. Sie beschließen gemeinsam nach Lourdes zu reisen. Aber es ist kein Platz für sie in der Diözesanwallfahrt: „Es ist für euch unmöglich euch einzuschreiben. Eure Kinder werden nichts verstehen; überdies werden sie die anderen Pilger stören.“

Egal, sie werden auf ihre eigenen Kosten fahren. Die gleiche Reaktion der Hotelmanager: „Gebt sie in die Betreuung von Notre-Dame. Das ist ein Ort für sie.“

Dennoch hatte einer Mitleid mit ihnen und war bereit sie zu nehmen, aber mit der ausdrücklichen Bedingung, dass die Mahlzeiten in ihrem Zimmer serviert werden. Während dreier Tage bringen ihnen die Reaktionen und die Blicke  das gleiche Unverständnis entgegen. Von Lourdes ausgeschlossen, fühlen sie sich aus der Kirche ausgeschlossen.

Mit ihnen hatten Jean Vanier und ich die Idee einer Wallfahrt, der wir den Namen „Glaube und Licht“ gaben. Sie richtete sich an Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien. Damit sie sich nicht wieder ganz einsam fühlen, wurde jeder von einem jungen Freund begleitet. Man bereitete sich in der Gemeinschaft vor, man erwartete keine Wunder der Heilung des Verstandes, aber  unserer Herzen.

Drei Jahre der Vorbereitung voller Schwierigkeiten, Einwände und sogar Opposition. Aber wir fühlten uns von der Hand Gottes getragen und einer nach dem anderen überwanden wir die Hindernisse.

Am Karfreitag 1971 sind wir zwölftausend Pilger aus fünfzehn Ländern, versammelt  auf der Esplanade du Rosaire.

Viertausend haben  eine geistige Behinderung. Drei Tage des Friedens und unsagbarer Freude. Nach und nach überwinden die Bewohner von Lourdes die Angst – manche hatten die Rollbalken bei ihrem Geschäft hinuntergelassen – zur Überraschung, dann zur Bewunderung. Wie konnte sich bei solchen Leiden, so vielen Verletzungen  eine so große Hoffnung äußern? Das war das Wunder von Lourdes, das Wunder der Herzen, das wir anstrebten. Man entdeckte, dass der behinderte Mensch zwar in seiner Intelligenz beeinträchtigt ist, nicht aber in seiner Fähigkeit zu lieben. Sein großer Durst war, geliebt zu werden, lieben zu können, sich nützlich zu fühlen. Er rief jeden dazu auf, sein Bestes zu geben und er veränderte viele Familien, die mit den Kleinsten um sich herum verbunden sind. Dort wo die Liebe ist, können die Freude und das Leid nebeneinander bestehen. denn das größte Unglück ist nicht, eine Behinderung zu haben, sondern nicht angenommen zu werden.

 „WIR WOLLEN,  DASS GLAUBE UND LICHT WEITERBESTEHT“

Im Augenblick des Abschiednehmens erhebt sich ein Aufschrei: „Es ist nicht möglich, dass es aus sein sollte. Wir wollen, dass Glaube und Licht weiterbesteht“. Darauf antwortete Jean Vanier: „Lasst euch vom Heiligen Geist leiten. Trefft euch weiterhin in der  Gemeinschaft der Freundschaft, des Gebetes, der Feier. Organisiert  andere Wallfahrten,  Feste …“

Die Wallfahrt war beendet, aber die Bewegung Glaube und Licht  war vor der Grotte von Massabielle geboren, dort wo die Jungfrau Maria Bernadette, die Armseligste, die am meisten Verachtete der Stadt erwählt hat, ihre Botschaft der Liebe der ganzen Welt zu verkünden.

Die Monate und Jahre, die diesem Ereignis von Lourdes folgten, sind schwierig. In Frankreich ruft die Entfaltung einer neuen Bewegung Besorgnis, Spannungen und Widerstand hervor.

Dennoch machen wir Fortschritte … Im Laufe der Jahre wird uns bewusst, dass vor allem Jesus uns den schwachen Menschen anvertraut hat, mit dem Er sich identifiziert. Gerade ihm offenbart Er seine Geheimnisse, mehr als den Klugen und Gelehrten. Zu gleicher Zeit hat Er uns die Gemeinschaft Glaube und Licht gegeben, einen Ort, wo man Zusammengehörigkeit leben kann. Dort treffen wir mit ihnen zusammen, Eltern, Freunden, vor allem mit Jungen, und einem Geistlichen.

Wir bemühen uns, einen Leib zu bilden: dieser Leib, von dem der heilige Paulus sagt, dass jedes Glied seine einzigartige Rolle einnimmt, „aber die Schwächsten sind die Notwendigsten und sie sind es, die am meisten geehrt werden müssen“ (1Kor 12,22-23).Mindestens einmal im Monat, manchmal öfter, erleben wir miteinander eine Begegnung der Freundschaft und des Teilens, des Gebetes und der Feier. Sie setzt sich in der Treue fort: ein Anruf, ein Mail oder eine Postkarte, Aufpassen auf ein Kind …  Man ist nicht mehr ganz einsam. Dort, wo ein Freund ist, ist ein Weg. Der zerbrechliche Mensch hat eine geheimnisvolle Gabe, die Herzen zu verwandeln, er lässt andere Werte erkennen als Geld, Macht, Ansehen. Er führt auf den Weg der Seligpreisungen. Er macht alterunterschiede, Hautfarbe, soziales Milieu bedeutungslos … Auch in einer Gemeinschaft in einem vornehmen Bezirk treffen einander Freunde, ein junger Arbeiter-Vater und ein Direktor eines Unternehmens, denn beide haben ein Kind mit Downsyndrom. Glaube und Licht

hat uns auch auf den Weg der Ökumene geführt, denn der Kleinste öffnet die Herzen, ungeachtet der Vorurteile und lässt zu, dass die Mauern brechen. Es ist eine Freude, katholische, anglikanische, protestantische Gemeinschaften verschiedener Traditionen, orthodoxe oder interkonfessionellen Gemeinschaften zu sehen, die Gott im gemeinsamen Gesang inständig anflehen: „Vater, mach uns eins“

 „DU  BIST  VON GOTT GELIEBT, SO WIE DU BIST“

Als wir 1975 anlässlich des Heiligen Jahres auf Wallfahrt in Rom waren, bekräftigte Paul VI die Zeichen seines Vertrauens und seiner Zuneigung. Im Petersdom, durch so viel Leid, so viel Vertrauens und so viel kindliche Liebe berührt, verzichtete er auf  Seiten seiner offiziellen Rede, um sich an alle persönlich zu wenden. „Ich möchte jedem verständlich machen: du bist von Gott geliebt, so wie du bist. Er wohnt in deinem Herzen. Hab Vertrauen zu Ihm.“ Die Wallfahrer sind mit der freudigen Gewissheit heimgekehrt, dass sie innig geliebte Kinder Gottes sind und einen begünstigten Platz in ihrer Kirche haben. Viel später, 1984, hat Papst Johannes-Paul II alle Verantwortlichen der ganzen Welt in Rom empfangen und von neuem ermutigt, sich in den Pfarren zu integrieren, indem er ihnen den Auftrag gab, dem Wort Jesu Gestalt zu geben: „Wenn du ein Fest gibst, lade die Armen ein, die behinderten Menschen, die Blinden, und du wirst glücklich sein“ (Luk 14, 13).

Da sie aus einer Wallfahrt entstanden sind, begeben sich Glaube und Licht –  Gemeinschaften gerne an einen heiligen Ort, mit Vorliebe in die Stadt Lourdes. Die erste war Marthe Robin, die anlässlich eines privaten Gesprächs mich auf den Gedanken brachte, dass es schön wäre, zum zehnten Jahrestag seit unserer Gründung dort der Jungfrau Maria für so viele Gnaden zu danken. Der Rhythmus einer Wallfahrt alle zehn Jahre wurde so ganz natürlich begründet, ein Treffen der internationalen Familie und jedes Mal ein neuer Anlauf, gestärkt durch eine wichtige Botschaft des Papstes.

 ZEICHEN DER HOFFNUNG

In den Jahren 2011-2012 sind nahezu fünfzig Wallfahrten von Lourdes aus in alle Gegenden der Welt aufgebrochen, die jeden aufriefen, Bote der Freude zu sein. Was die Verantwortlichen von heute betrifft, haben sie den Zuspruch mit Treue und großer Überzeugung angenommen, im Bewusstsein, dass Herausforderungen zu bewältigen sind: das Altern zahlreicher Gemeinschaften, gelegentliche Müdigkeit und Mutlosigkeit, Angst vor der Verpflichtung im Besonderen bei den Jungen, Verweltlichung der Umgebung …

Und dann, trotz des erheblichen Fortschritts, der  seit vierzig Jahren in der Beliebtheit der Menschen mit einer Behinderung (weniger in den Entwicklungsländern) erreicht wurde, weiß  man, wie sehr sie ausgegrenzt bleiben bis zu ihrer gelegentlich systematischen Beseitigung vor der Geburt.

Angesichts dieser Herausforderungen scheint Glaube und Licht sehr klein, lächerlich, „aber Gottes Gnadengaben und sein Berufung sind unwiderruflich“ (Röm 11,29). In tiefster Dunkelheit genügt es, dass eine Lampe aufflammt, damit die Dunkelheit nicht noch dunkler  werde. Glaube und Licht ist nicht nur eine Antwort, sondern auch ein Zeichen der Hoffnung. Von jedem von uns hängt die Strahlkraft ab, heute …  für morgen.

 Marie-Hélène Mathieu

 (1) Plus jamais seuls, l’aventure de Foi et Lumière,Marie-Hélène Mathieu mit Jean Vanier,  2011, Ed. Presses de la Renaissance. Übersetzt in brasilianisch, italienisch, portugiesisch, polnisch; in Vorbereitung spanisch und englisch.

 Glaube und Licht in Grönland?

 „Wir haben nie das Wachstum von Glaube und Licht in der Welt geplant. Wir haben uns nie gefragt: warum nicht dieses oder jenes Land, wo die Bewegung schon besteht, mit einzubeziehen, oder warum nicht unseren Blick auf diesen oder jenen Teil der Welt zu werfen? Dennoch stellte mir Jean-Jacques, ein Mitglied unserer Gemeinschaft, mit Downsyndrom und schwerer visueller Schwäche, regelmäßig die Frage nach dem Wachstum von Glaube und Licht. Die Bewegung hatte sein Leben verändert und er war von dessen Strahlkraft besessen. Jede Woche hatte ich die Aufforderung: Gibt es Glaube und Licht in Grönland?

– Nein, Jean-Jacques.

– Dann, Marie-Hélène, ich glaube, du müsstest damit anfangen.“

 Marie-Hélène Matthieu,

Auszug aus dem Buch „Plus jamais seuls“